Sagenhafte Frauen
„Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.“
Es war einmal eine Königin. Sie saß an einem Fenster, das einen Rahmen aus schwarzem Ebenholz hatte und nähte. Da stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Drei Farben – weiß, rot und schwarz. Es sind drei heilige Farben, die auf überlieferte Ur-Mythen der Menschheit zurückgehen.
Laut der Meranerin Ulrike Kindl, einer führenden Expertin auf dem Gebiet der volkskundlichen Erzählforschung, repräsentieren sie drei weibliche Gottheiten – Mondgöttinnen, die in den entsprechenden Farben auftreten und für Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Fruchtbarwerdung und Wiedergeburt stehen. Für Ulrike Kindl erzählt Schneewittchen die Geschichte einer Initiation: die fundamentale Erfahrung der Wandlung, die das Sterben alten Lebens voraussetzt, damit neues Leben entstehen kann. Die Forscherin erkennt in dem Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm nicht nur die deutsche Tradition der damaligen Zeit. Einzelne Motive des Märchens haben eine sehr viel ältere Tradition und gehen auf die alte griechische Mythologie zurück.
Ulrike Kindl gehört zu den führenden Forscherinnen, was die Deutung von volkskundlichen Erzählungen wie Märchen und Sagen angeht. Ihr Spezialgebiet sind die Dolomiten, die in ihren abgeschlossenen, engen Tälern die Geschichten von vielfältigen Natur-Wesenheiten bewahrt haben. Im ladinischsprachigen Raum sind die Fanes-Sagen überliefert, ein Mythenstoff, dessen Grundlage ein Ahninnenkult ist. Im Reich der Fanes, dem Königreich Ladiniens, werden die weiblichen Gottheiten mit ihrer Stamm-Mutter Dolasilla in den Vordergrund gestellt.